Hintergrund
Was generell und insbesondere auch in Corona-Zeiten an vielen Ecken und Enden zu fehlen scheint,
sind haltgebende Rituale, Orientierung und Spiritualität. Konnte dies im Alltag bislang elegant
durch die Konsum-Maschinerie kompensiert werden, braucht es angesichts deren Wegfall und der
neuen Herausforderung vielleicht auch eine neue, oder zumindest wiederbelebte Bewältigungskultur,
um existenzielle Ungewissheiten erträglicher zu machen in einem immer tosenderen Meer voller dynamischer Wandlungen.
Zentral in Darstellung und Titel scheint ein Maibaum zu stehen, offensichtlich
kombiniert mit einer nicht so richtig zum vermeintlichen Anlass passen wollenden Kreuzigungsszene.
Umrandet hiervon sehen wir in dem in die Jahre gekommenen Kinosaal einen Schweißer, der sich mit
einem überdimensionalen Metall-Ei abmüht, einen ebenso eiförmig verspiegelten Gegenstand in unmittelbarer Nähe,
den Axt-tragenden Förstertyp im Hintergrund sowie ein tanzendes oder zumindest posierendes Paar in einer seltsamen,
ebenfalls verspiegelt anmutenden Uniform.
Letztlich wohnen wir beim Betrachten nolens volens einer wie auch immer gestalteteten rituellen Handlung, vielleicht
einem Brauch oder womöglich sogar übergeordneten Tradition bei; auch wenn wir die Hintergründe nicht zu kennen scheinen.
Das Errichten eines Kultpfahls begegnet uns in diversen Regionen, Kulturen und Epochen, in immer wieder unterschiedlichen
Ausgestaltungen und Spielformen, mit ebenso vielfältigen dahinterliegenden Gedankengebäuden.
Ob als Freiheitsbaum in der französischen Revolution, als Narrenbaum in Abwandlung des biblischen Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse
im späten Mittelalter oder als kultischer „Riesen-Phallus“ in der Romantik, der als Fruchtbarkeitssymbol für reiche Ernten sorgen sollte.
Bräuche dienen der Sinn-, Identitäts- und Integrationsstiftung. Insofern stellen sie Quasi-Lösungsversuche dar,
der Komplexität des Lebens und seiner damit einhergehenden existenziellen Fragestellungen mit Antworten oder
zumindest orientierungsgebenden Leitplanken zu entgegnen. Sei es in regionaler oder religiöser Hinsicht,
sei es in Bezug auf den Jahres- oder den Lebenslauf. Sie liefern uns einen haltgebenden Rahmen, einen Satz von Zeichen und Symbolen,
Anweisungen und Rollen.
Im Bild begegnet uns somit das "Ei des Kolumbus", als Prototyp der einfachen Lösung für komplexe oder gar unlösbar gewähnte Fragen.
Zum einen fragmentarisch konstruiert und in seinem Erlösungscharakter präsentiert (Segensgestus des Schweißers), zum andern auch in Form
der spiegelnden Eierfigur danebst. Die Assoziation zum rumänisch-französischen Bildhauer Constantin Brâncuși erscheint
hier mehr gewollt denn Zufall: Verweisen dessen häufig abstrakten eiförmigen Köpfe doch ebenfalls auf die Situation des Körpers im Raum
(resp. der Seele in der Zeit), seine polierten und reflektierenden Masken auf die allumfassende Spiegelung jeglicher Erscheinungen der irdischen
und kosmischen Welt. Der äussere Raum wird somit zugleich zum inneren - und umgekehrt.
»Die festgeschlossene Kernform öffnet sich geradezu durch ihre hohe Politur dem Raum, durchstrahlt ihn und ergreift
nach allen Richtungen hin spiegelnden Besitz von ihm und der Umwelt« (Giedion-Welcker, Constantin Brancusi, Basel / Stuttgart 1957).
Auch findet der schwarze "Sockel" der malerisch dargestellten Ei-Plastik in Anlehnung an Brâncuși hierin seine Bedeutsamkeit -
nämlich „alle Formen in einer Form zusammenzufassen und lebendig zu machen“ (eine Position, die nachhaltig das Schaffen Alberto Giacomettis, Joseph Beuys´, Richard Serras oder Robert Morris´ prägte)
Im Lauf der Entwicklung können Bräuche aber auch ihre Bedeutung verlieren und zum leeren Selbstzweck werden. Oder
sie durchmischen sich, werden ersetzt durch Abwandlungen, oder gänzlich neue Brauchtümer entstehen gar.
Diese Bräuche haben oft nicht die gleiche Bindekraft und Lebensdauer wie Bräuche früherer Zeiten, bedingt durch
immer kürzer werdende Traditionsketten. Ist es heute noch das "normale" Hipstertum, das vermeintlich Halt und Orientierung
in der bedrohlich entindividualiserten Mega-Metropole schenkt, kann es morgen schon die lumbersexuelle Variante hiervon sein.
Gestern Sauerkraut-Haxe, heute vegan, morgen schon wieder "Paleo".
Der Querverweis zu Konstrukten über den "rasenden Stillstand", den "Beschleunigungstotalitarismus" oder "Eilkrankheiten"
in der Postwachstumsgesellschaft soll an dieser Stelle nur als Randnotiz Erwähnung finden. Lesenswert sind hier die Ausführungen des
Soziologen Hartmut Rosas, der den zunehmend wieder aufblühenden Fundamentalismus im Sinne eines Beschleunigungswiderstands,
und somit als (vormals durch tradiertes Brauchtum gewährleisteten) Stabilitätsgaranten sieht.
Der Maibaum in Wackers Bild, Sinnbild einer archaischen Tradition daherkommend in diversen Gewändern, ob
als kollektiver Brauch (der verzierte Baum am zentralsten Platz am Ort) oder als individueller Ritus (als Bekundung
einer Zuneigung aufgestellt vor dem Haus der Begehrten) kann somit für einen von Menschen gemachten, in der Regel
per "Muskelkraft" errichteten Lösungsversuch gesehen werden, existenzielle Ungewissheiten erträglicher zu machen und
den rettungssuggerierenden Anker in einem tosenden Meer voller dynamischer Wandlungen zu setzen.
Ob modernen Kolumbus-Eiern im abgepiddelten Kinosaal des Lebens ein Happy End vergönnt sein mag, wird
wohl nur die Zeit zeigen können. Ein ganz bestimmter und konkreter Ansatz erscheint hier jedoch vielversprechend:
Von vorne her rückwärts zu denken, wie es der Sozialpsychologe Harald Welzer in seiner "Stiftung Futurzwei" postuliert.
Nur wer zu antizipieren versucht, was gewesen sein wird, hat eine reelle Chance, den Weg dorthin klarer zu sehen
und auch entsprechende Lösungswege einzuschlagen. Und zwar nicht als passiver oder ausschliesslich re-agierender Rezipient
des Geschehens, der mit Kulthandlungen unterschiedlichster Couleur die vermeintliche Bedrohung zu annihilieren versucht,
sondern als pro-aktiver Einflussnehmer und Zukunftsgestalter.
Auch kann hierin ein therapeutischer Ansatz gesehen werden, quasi ein Versuch, dem "erschöpften Selbst" (im Sinne Alain Ehrenbergs)
eine Art Heilung zu verschaffen; dass nämlich ein Individuum an seinen Erfahrungen wächst und lernt,
seine Konflikte auszuhalten und als konstituierenden Teil der Persönlichkeit zu akzeptieren.